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Der tote Christus von zwei Engeln gestützt

Passionsgeschichte, Bild 912

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Ganz nah kommt uns der tote Christus in Giovanni Bellinis Darstellung, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Venedig entstand. Gesicht, Haut, Hände, der ganze Körper sind feinst schattiert und wirken dadurch extrem plastisch. Der Gesichtsausdruck wirkt entrückt, fast als schliefe oder träumte Christus nur. Doch die tiefe Seitenwunde, die ihm durch den Lanzenstich des Longinus zugefügt wurde, und die Stigmata verweisen unzweifelhaft auf die Kreuzigung. Auch das Blut, das irritierenderweise aufwärts zu fließen scheint, erinnert noch daran, dass die Hände in umgekehrter Richtung an den Querbalken des Kreuzes geschlagen waren.

Zwei Engel mit kindlich-zarten Gesichtern und Händen stützen den Toten. Ihre Zartheit betont die Schwere des toten Körpers, das Menschliche an Gottes Sohn. Einer der Engel blickt direkt auf Christus, auf dessen Tod, während der zweite den Blick erhoben hält, dem Himmel und der Auferstehung entgegen. Der spanische, tief gläubige Renaissancekomponist Tomás Luis de Victoria komponierte „Tenebrae factae sunt“ als achte von insgesamt 18 Motetten der Tenebrae-Responsorien. Sie wurden während der Karwoche zwischen Gründonnerstag und Karsamstag aufgeführt. Der vierstimmige Satz hat einen Kehrvers, der aus dem Lukasevangelium zitiert: „Und Jesus neigte das Haupt und verschied“. Am Ende heißt es in den Worten Jesu: „Vater, in deine Hände gebe ich meinen Geist“, und schließlich: „Jesus neigte das Haupt und verschied“.

Die Verzweiflung über dieses Verscheiden, die Bellinis eindringlichem Gemälde auch innewohnt, verwandelt sich in dem geneigten Haupt Christi und unter seinen geschlossenen Augen in eine Form der Hingabe, schwebend zwischen Tod und Erlösung, zwischen den Menschen und Gott.

Ein Gemälde von Jesus mit zwei Engeln. Der gelblich gefärbte Oberkörper Jesus füllt den Großteil des Bildes vor einem rötlichen Stoff. Seine Augen sind geschlossen, seine Wunden sichtbar. Links und rechts hinter ihm, über seinen Schultern sind zwei Engel. Sie stützen ihn. Der rechte blickt in den Himmel, der linke auf Jesus.

Musik in voller Länge

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Tomas Luis de Victoria (1548–1611)
„Tenebrae factae sunt“
Aus: "Tenebrae-Responsorien"
RIAS Kammerchor Berlin, Justin Doyle

Werkangaben

Der tote Christus von zwei Engeln gestützt (um 1470–1475),
Giovanni Bellini,
Pappelholz,
66,9 × 82,0 cm

Christoph Schmidt

Detail, Stigmata

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Aus einem Interview mit Neville Rowley, Kurator der Gemäldegalerie

Er hat die Stigmata; er war am Kreuz, er ist gestorben, und auch diese Stigmata sind unglaublich realistisch dargestellt. Man sieht es zum Beispiel an den Händen, dass man nicht versteht, warum das Blut nach oben rechts und nach links für die andere Hand geht. Aber dann versteht man – „Ah ja, er war am Kreuz, das war die Richtung des Blutes vom Boden aus!“ Und das ist hier geblieben, als ob Giovanni Bellini einen richtigen Christus als Modell oder eine gekreuzigte Figur als Modell gehabt hätte. Das ist natürlich nicht der Fall, aber das war eine Strategie des Malers, um mehr Realismus, mehr Einfühlung in das Bild zu bringen. Es ist nicht nur eine Figur, die sehr entfernt von uns ist. Das ist wie eine Spiegelfigur. Das sollen wir sein. Das ist jemand, der uns nicht anschaut, aber wir sehen einen Gott, der auch Mensch war. Das ist die Hauptbotschaft des Bildes.

Detail, Engel

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Aus einem Interview mit Neville Rowley, Kurator der Gemäldegalerie

Die beiden Engel haben verschiedene Gefühle. Einer schaut auf diesen toten Christus links und er sieht den Tod, und er hat keine Hoffnung. Vielleicht hat der andere, der zum Himmel schaut, ein bisschen mehr Hoffnung, weil nach drei Tagen oder bald die Auferstehung kommt. Und besonders ist: Bei dem einen Engel fehlt eine Hand. Normalerweise in der Zeit, wenn man die Figuren zeigt, gibt es keine Chance, dass eine Hand fehlt – die Maler der Zeit zeigen das sonst – vielleicht ein bisschen versteckt. Aber hier fehlt eine Hand von dem Engel links und die Flügel von dem Engel rechts. Ich denke, das war auch eine Strategie für Giovanni Bellini, um uns dazu zu bringen, stundenlang vor den Bildern zu stehen, sodass man sich einige Fragen stellen muss: Wo ist diese Hand, wo sind diese Flügel und das ist viel besser, als alles sofort und flach vorgegeben zu haben. Was ist der Hintergrund, dieser Himmel? Wo sind wir? Sitzt er in seinem Grab oder nicht? Was bedeuten diese Rosen-Kleider hier? All diese Fragen, die sehr wichtig für die Devotion waren. Man muss sich vorstellen, stundenlang. Vielleicht muss man früh in die Gemäldegalerie kommen und eine Stunde nur vor diesem Bild verbringen, nachdenken und vielleicht ein bisschen Musik hören.

Detail, Gesichtsausdruck Jesu

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Aus einem Interview mit Gregor Meyer, künstlerischer Assistent des RIAS Kammerchor Berlin

Mein Fokus richtet sich hier sehr schnell auf das Gesicht von Jesus Christus, der ja, der Geschichte nach, und auch, wie man den Wunden seiner Hände und der geöffneten Brust ansehen kann, verstorben ist. Also den Kreuzestod erlitten hat, und trotzdem in seinem Gesicht etwas sehr Friedvolles, Ergebenes und Erlöstes transportiert. Also es ist befreit von jeglichem Schmerz, so wirkt es zumindest auf mich. Und sehr passend dazu die Motette aus den sogenannten Tenebrae-Responsorien von Tomas Luis de Victoria, und es gibt dort einen Kehrvers, in dem es heißt, dass Jesus das Haupt neigt und verstirbt. Und es gibt aber zwei Anläufe mit sehr unterschiedlichem Charakter, nämlich:

Jesus wurde aus diesen sogenannten siebten, letzten Worten nämlich einmal: „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Also die große Klage, die Verzweiflung in dieser Todesangst, dieser Vers der ja auch dann Einzug gehalten hat in den zweiundzwanzigsten Psalm.

Und Victoria nimmt auch beide Male die gleiche Musik als Refrain. Und trotzdem ist es für mich so, dass ich diese Musik unterschiedlich höre. Einmal, wenn die Anklage vorangestellt ist und einmal, wenn diese Erlöstheit oder diese Hingabe im Zentrum des Geschehens steht.

Der tote Christus von zwei Engeln gestützt
Gemäldegalerie
Hauptgeschoss, Raum 37

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